Intuitive Ernährung – Einfach auf den Bauch hören?

Intuitive Ernährung – Einfach auf den Bauch hören?

Vielleicht schaust du ja auch gerne YouTube Videos zum Thema Ernährung an. Einer der aktuellen Trends scheint dort die „intuitive Ernährung“ zu sein. Sollte man lieber auf’s Bauchgefühl hören, anstatt sich über das Thema Essen den Kopf zu zerbrechen? In diesem Artikel gehe ich dieser Frage auf den Grund.


Kleiner Disclaimer: 
Ich bin zertifizierte Ernährungsberaterin, keine Ernährungswissenschaftlerin oder -therapeutin. Daher beziehe ich mich in meinen Aussagen in erster Linie auf Sekundärliteratur. Entsprechende Quellen zu weiterführenden Informationen von Expert*innen und Fachgesellschaften verlinke ich im Text.

Meine Artikel richten sich zudem an gesunde Menschen. Wende dich bei gesundheitlichen Beschwerden bitte an deine*n Ärzt*in oder Ernährungstherapeut*in.


Intuitive Ernährung – was ist das?

Klären wir erst einmal, worum es bei der intuitiven Ernährung geht. Das Bundeszentrum für Ernährung Baden-Württemberg schreibt dazu beispielsweise: „Stellen Sie sich vor, es gäbe beim Essen keine Vorschriften, Regeln oder Einschränkungen mehr. Einfach schlemmen und genießen, wonach einem gerade ist. Ein unvernünftiger Traum? Nein, ein Modell mit Gesundheits- und Erfolgspotenzial!“

Dabei werden folgende Regeln vorgeschlagen:

Die 10 wichtigsten Prinzipien der intuitiven Ernährung

  • Spüren Sie bewusst Ihr Hunger- und Ihr Sättigungsgefühl und reagieren Sie darauf. Essen Sie nur dann, wenn Sie körperlich hungrig sind und hören Sie auf, wenn Sie angenehm satt (und nicht völlig überfüllt) sind.
  • Bevor Sie etwas in den Mund stecken, fragen Sie sich: Will ich das wirklich? Brauche ich das? Habe ich richtigen Hunger oder vielleicht nur Kummer oder Langeweile? Fragen Sie bei der Lebensmittelauswahl Ihren Bauch und nicht Ihren Kopf.
  • Jedes Lebensmittel ist zu jeder Zeit erlaubt, es gibt keinerlei Verbote. Lebensmittel werden nicht in Gut und Böse unterteilt.
  • Gehen Sie aufmerksam mit den Signalen Ihres Körpers um. Spüren Sie nach dem Essen in sich hinein, ob Sie Lebensmittel gut vertragen oder nicht, ob Sie sich schlapp oder energiegeladen fühlen.
  • Lehnen Sie die Diät-Mentalität ab. Genuss steht im Vordergrund. Erleben Sie den befriedigenden Effekt von Essen.
  • Schließen Sie Frieden mit dem Essen und vor allem mit Ihrem Körper.
  • Nutzen Sie Essen nicht, um Ihre Stimmung zu verbessern.
  • Nehmen Sie sich ausreichend Zeit und Ruhe für die Mahlzeiten. Seien Sie beim Essen achtsam und aufmerksam. Ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle oder Reue gibt es nicht.
  • Bewegung sowie Meditations- und Achtsamkeitstechniken helfen beim Aufbau des neuen Körpergefühls und der Umstellung auf intuitive Ernährung.
  • Und das Wichtigste zum Schluss: Haben Sie Geduld. Manche Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um ihren Körper wieder neu kennenzulernen und die Signale richtig zu deuten.“
    Quelle: Landeszentrum für Ernährung BW

Es gibt auch einige Reportagen und Dokus zum Thema, z.B. diese hier:

„Essen ohne Reue“ heißt es hier bei Quarks zum Beispiel. Und „wer auf seinen Körper hört, braucht keine Ernährungsregeln“.

Das hört sich erst mal super an: Einfach auf’s Bauchgefühl hören und das essen, worauf man Lust hat. Das hören die Leute gerne. Aber: Ganz so einfach ist es in der Realität meiner Meinung nach dann doch nicht.


Gute Ansätze, aber…

Ich bin absolut kein Freund von strikten Regeln, Verboten oder schlechtem Gewissen beim Essen – im Gegenteil. Und was das betrifft, bietet die intuitive Ernährung durchaus sinnvolle Ansätze: Mehr auf seinen Körper zu hören, nur essen, wenn man wirklich Hunger hat, aufhören zu essen, wenn man satt ist, achtsam essen – das sind alles gute Ratschläge. Aber einfach essen, worauf man Lust hat? Bei dieser Empfehlung habe ich so meine Bedenken.

Ich finde, man sollte Ernährung nicht isoliert, sondern im Kontext unserer derzeitigen Überflussgesellschaft betrachten. Für einen Steinzeitmenschen war es sicher sinnvoll, sich auf’s Bauchgefühl zu verlassen. Es hat immerhin das Überleben gesichert. Und unsere Vorfahren konnten sich ja auch nicht entscheiden zwischen einem Stück Fleisch mit Beeren und Blättern (nach stundenlanger Suche und Jagd) und mal schnell Burger mit Pommes von der Imbissbude um die Ecke. In einer Welt, in der kaloriendichtes, hochverarbeitetes Essen zu jeder Zeit an jeder Ecke verfügbar ist, sieht es eben etwas anders aus mit der intuitiven Ernährung.


Ernährungserbe – Warum mögen wir es süß, fettig und salzig?

Betrachten wir doch erst einmal genauer, warum wir bestimmte Lebensmittel oder Gerichte so gerne essen. Dazu muss man einen Blick in unsere Vergangenheit werfen: Jahrtausende lang waren unsere Nahrungs-Ressoucen begrenzt. Wir mussten jagen und sammeln gehen. Oder in mühevoller Arbeit Felder bewirtschaften. Wenn es eine Dürre oder Insektenplage gab, ist die Ernte ausgefallen. Jede Kalorie war sehr wertvoll. Und jede Gelegenheit, zu essen, hat man besser direkt genutzt, um das Überleben zu sichern und Fettreserven für Hungerphasen aufzubauen.

Wir lieben daher kaloriendichtes Essen. Dieses erkennen wir – wer hätte es gedacht – intuitiv! Kein Wunder, dass wir gerne Döner, Schnitzel und Pommes essen. Unser Gehirn sagt uns also: Je mehr Energie auf einmal, desto besser. Und was hat am meisten Kalorien in Relation zum Gewicht: Fett. Mit etwa 9 kcal je Gramm enthält es mehr Energie als Eiweiß oder Kohlenhydrate (etwa 4 kcal / g).

Warum lieben wir dann auch Süßes? Süß signalisiert zum einen, dass das Lebensmittel wahrscheinlich genießbar ist. Ursprünglich waren die süßesten Lebensmittel reifes Obst, vielleicht auch mal Honig. Dabei sind fast alle süßen Obstsorten (und natürlich auch Honig) ungiftig. Bei Bitterem war man hingegen skeptisch – es könnte signalisieren, dass das Nahrungsmittel giftig ist. Zum anderen signalisiert Süße schnell verfügbare Kohlenhydrate in Form von Glucose und Fructose, die schnell verdaut und zu Energie umgebaut werden können. Und wie wir bereits wissen: Je mehr Energie auf einmal, desto besser – also unserem „Steinzeithirn“ nach.

Und woher kommt unsere Lust auf Salziges? Der salzige Geschmack kam in unserer Nahrung in der Vergangenheit recht selten vor. Er signalisierte uns, dass wichtige essentielle Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten sind. Auch wenn das heutige Haushalts-Salz bekanntlicher Weise aus nicht viel mehr als Natrium und Chlorid besteht (und es an anderen essentiellen Mineralstoffen in der Nahrung eher mangelt), sprechen wir immer noch auf den salzigen Geschmack an.

Wir wissen heutzutage eigentlich sehr wohl, dass uns zu viel Fettes, Süßes und Salziges schadet. Und dass wir für unseren meist bequemen Lebensstil gar nicht mehr so viel Energie benötigen – aber es schmeckt einfach so verdammt lecker! Das haben wir unseren Genen zu verdanken.

Natürlich gibt es daneben noch sehr viele weitere Faktoren, die beeinflussen, was wir essen: Die Erziehung bzw. das Vorbild der Eltern (auch deren Mikrobiom und die Epigenetik), Umfeld, Gewohnheiten, soziale, ethische, gesellschaftliche, finanzielle Faktoren und viele mehr.


Ernährungsverhalten – Wie macht man’s denn nun richtig?

Zugegeben: Ein gesundes Essverhalten ist schon ein gewisser Balance-Akt.

Auf der einen Seite sind strikte Regeln und Verbote schädlich. Sie können zu zwanghaften Essmustern führen und Essstörungen wie Binge-Eating, Bulimie oder Magersucht begünstigen. Wobei man nicht vergessen darf, dass Essstörungen psychische bzw. psychosomatische Erkrankungen sind und das zwanghafte Verhalten eher ein Symptom dieser Erkrankungen ist.

Auf der anderen Seite ist eine „mir-doch-egal“ Einstellung zum Essen auf Dauer auch nicht gesundheitsförderlich. Das mag vielleicht in der Kindheit und Jugend noch ohne merkbare Beschwerden durchgehen, aber spätestens im Alter steigt das Risiko für Beschwerden und Erkrankungen. Zahlreiche „Zivilisationskrankheiten“ oder „Alterskrankheiten“ sind ernährungs(-mit-)bedingt und dadurch zum Teil vermeidbar.

Also: Was ist denn dann ein gesundes Essverhalten? In einem sehr empfehlenswerten Zeit-Akademie Kurs erklärt es Ernährungspsychologe Dr. Thomas Ellrott sinngemäß so:

Es gibt zum einen die Unterscheidung in gezügeltes und ungezügeltes Essverhalten. Das ungezügelte Essverhalten führt dabei in der Regel dazu, dass man zu viel isst. Es begünstigt also langfristig Gewichtszunahme und ggf. ernährungsbedingte Krankheiten.

Quelle: Institut für Ernährungspsychologie

Beim gezügelten Essverhalten wird unterteilt in „rigide“ und „flexibel“. Rigides Essverhalten bedeutet zum Beispiel, dass man sich Lebensmittel verbietet oder bewusst hungert und danach unter Umständen zu viel isst. Man unterliegt dabei also strengen Regeln. Wird eine dieser Regeln gebrochen, führe das, wie Dr. Ellrott es beschreibt, zu einem „Dammbrucheffekt“ nach dem Motto: „Jetzt habe ich die Regel gebrochen, dann ist es ja auch egal. Dann kann ich jetzt so viel essen, wie ich möchte“. Das wiederum führt zu Gewichtsschwankungen, Jo-Jo-Effekten und langfristig meist zur Gewichtszunahme. Im schlimmsten Fall entwickeln sich Essstörungen. Beide genannten Ernährungsverhalten sind also nicht empfehlenswert.

Zu empfehlen ist das gezügelte, flexible Essverhalten: Man achtet zwar auf eine gesunde, ausgewogene Ernährung, verbietet sich aber keine Lebensmittel und isst auch mal Ungesundes – ohne schlechtes Gewissen. Eine gute Balance macht es eben aus!


Fazit – Intutitive Ernährung, ja oder nein?

Einerseits richtet sich die intuitive Ernährung klar gegen strikte Ernährungsmuster und Verbote – also gegen das oben beschriebene gezügelte, rigide Essverhalten. Das ist erst mal positiv. Für viele Menschen, die sich Jahre lang mit Diäten und Jojo-Effekten geplagt haben, stellt das sicher erst mal eine große Erleichterung dar. Aber meiner Ansicht nach nicht unbedingt eine Lösung des zu Grunde liegenden Problems.

Um über Jahre antrainierte Verhaltensmuster zu ändern bedarf es Zeit, Geduld und bestenfalls professionelle Unterstützung, z.B. durch Ernährungsberater oder Ernährungs- und Psychotherapeuten. Dieses Verhalten wird in der Regel nicht einfach abgelegt, indem man mal zwischendurch die Gabel zur Seite legt und tief durchatmet – um dann wiederum alles zu essen, worauf man gerade Lust hat, wie es die intuitive Ernährung suggeriert.

In der oben verlinkten Doku sieht man sehr deutlich, wie sehr zwei der Teilnehmerinnen trotz der vermeintlich intuitiven Ernährung an ihren alten Mustern und Glaubenssätzen zum Thema Ernährung hängen: „Wer zuerst die Gabel nimmt, hat verloren.“


Zum anderen wird in der intuitiven Ernährung zum Teil das oben beschriebene ungezügelte Essverhalten beworben, das eben auch negative Auswirkungen haben kann. In einer Welt, in der man sich zwischen dem bunten Salatteller und der Pizza entscheiden kann, würden sich die meisten wohl intuitiv für die Pizza entscheiden. Das liegt wie beschrieben einfach in unseren Genen: Lieber jetzt richtig viel Energie zu sich nehmen, um für schlechte Zeiten vorzusorgen.

Nicht, dass es ein Problem wäre, Pizza zu essen – auf keinen Fall! Nur wenn man mehrmals am Tag diese „intuitive Entscheidung“ trifft, ist das langfristig nicht gesundheitsförderlich.

Eine gesunde Einstellung zum Essen ist dagegen ein gezügeltes aber dennoch flexibles Essverhalten. Also sozusagen intuitives Essen mit ein bisschen Verstand. Eine gesunde Mischung ohne Zwänge und Verbote. Heißt also: Stelle deine Ernährung größtenteils aus vielfältigen, bunten, möglichst vollwertigen Lebensmitteln zusammen mit viel Gemüse, Obst, Vollkorn und Hülsenfrüchten – du musst dir dabei aber keine Verbote oder strikten Regeln setzen! Und wenn du Schokolade, Chips oder Pizza isst, tu es mit Freude und Genuss!


Zu guter Letzt

Was ich an der Philosophie der intuitiven Ernährung sehr schätze ist das „auf seinen Körper hören“. Nicht unbedingt im Sinne von: „Ich esse alles, auf was ich Lust habe“. Sondern eher: „Ich versuche zu erkennen, ob und wann ich wirklich Hunger habe. Oder ob mich einfach der Duft vom Bäcker angelockt hat. Ich nehme mir Zeit, esse bewusst und schätze mein Essen wert. Ich versuche, das Signal meines Körpers zu erkennen, wenn er satt ist. Und beobachte, wie sich mein Körper nach dem Essen anfühlt.“ Und so weiter.

Das sind Fähigkeiten, die wir meiner Meinung nach (wieder) erlernen sollten. Es braucht viel Zeit und Achtsamkeit – aber ich denke, es lohnt sich! Immerhin ist es unser eigener, einziger Körper, den wir gut kennenlernen und liebevoll behandeln sollten.



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